Hans Walser, [20200529]
Falsche Perspektive
Es wird diskutiert, ob die Perspektive in der Abbildung 1 stimmt.
Abb. 1: Sonne am Wolfgangsee (Foto durch den Autor)
Das Bild befindet sich an der Au§enwand der Mensa im Bifeb (Bundesinstitut fŸr Erwachsenenbildung, BŸrglstein 1–7, A-5360 St. Wolfgang i.S.).
AnlŠsslich einer Geometrietagung am Bifeb wurde die Frage laut, ob in diesem Bild die Perspektive stimme.
Zur Bearbeitung dieser Frage gehen wir von der Annahme aus, dass das au§erhalb der Sonne sichtbare Dreiecksmuster in ein perspektivisch dargestelltes Raster von kongruenten Rechtecken passt. Die Abbildung 2 zeigt ein solches hypothetisch angenommenes Rechteckraster.
Es werden einige Testmethoden besprochen.
Abb. 2: Hypothetisches Rechteckraster
In einem Rechteckraster laufen die Diagonalen Ÿber Eck geradlinig weiter (Abb. 3).
Abb. 3: Diagonale Ÿber Eck
Da eine perspektivische Abbildung geradenerhaltend ist, mŸsste das auch in unserem Bild (Abb. 1 und 2) gelten. Der Diagonalentest ist aber negativ, die Folge der Diagonalen ist leicht gekrŸmmt (Abb. 4).
Abb. 4: Diagonalentest negativ
Dieser Test ist sehr einfach und kann leicht vor Ort gemacht werden, indem zum Beispiel eine gerade Papierkante als Vergleichsobjekt dient.
Es gibt viele Beispiele von ãKunst am BauÒ, die den Diagonalentest nicht bestehen. Perspektivische Chorschrankengitter in barocken Kirchen haben oft eine falsche Perspektive. Auch in etlichen SchulbŸchern finden sich – Gott seiÕs geklagt – solche falsche Perspektiven.
Zur Zeit von Albrecht DŸrer (1471-1528) war die Perspektive noch eine echte Herausforderung (Schršder 1980). In frŸhen Bildern von DŸrer finden sich noch falsche Perspektiven wie in der Abbildung 4. SpŠter hat er dazugelernt.
Erinnerung: Wir sind von der Hypothese ausgegangen, dass das Rechteckraster aus kongruenten Rechtecken besteht, etwa wie ein Plattenboden aus gleichen rechteckigen Platten. Wenn die Rechtecke in der Tiefenrichtung zunehmend lŠnger sein dŸrfen, sind natŸrlich auch bei einer korrekten Perspektive die †bereck-Diagonalen nicht auf einer Geraden.
In einem perspektivischen Bild haben Parallelenscharen einen scheinbaren Schnittpunkt (wird manchmal Fernpunkt oder Fluchtpunkt genannt) auf der Horizontlinie. Das berŸhmte Beispiel dazu ist ein Foto von Eisenbahnschienen.
In unserm Bild haben die Tiefenlinien einen solchen scheinbaren Schnittpunkt. In der Abbildung 5 ist auch die Horizontlinie (grŸn) eingetragen.
Weiter sind horizontal jeweils zehn Rasterrechtecke zu einem gro§en Rechteck zusammengefasst und die Diagonalen dieser gro§en Rechtecke eingetragen. Diese Diagonalen sind in Wirklichkeit parallel, mŸssten sich also im Bild auf der grŸnen Horizontlinie schneiden.
Abb. 5: Noch mehr Diagonalen
Tun sie aber nicht, sondern sind, horribile dictu, auch im Bild parallel. Test negativ.
Bemerkungen:
(1) Wir werden sogar das Opfer einer optischen TŠuschung, indem wir die Bildgeraden nach rechts fŠcherfšrmig gespreizt sehen. Das ist so, weil unser perspektivisch geschultes Hirn erwartet, die Bildgeraden mŸssten nach rechts zu einem Schnittpunkt zusammenlaufen.
(2) Didaktische Bemerkung: Diese fŠlschlicherweise parallelen Bildgeraden liefern den SchlŸssel zur Denkstruktur des Bildurhebers. Die breiten Rechtecke mit ihren Diagonalen bilden eine abnehmende geometrische Folge mit einem Grenzpunkt. Dieser Grenzpunkt wurde mit dem perspektivischen Fluchtpunkt verwechselt. Bei einer korrekten perspektivischen Darstellung haben wir es aber nicht mit einer abnehmenden geometrischen Folge (wie etwa der Zahlenfolge ) zu tun, sondern mit einer abnehmenden harmonischen Folge (wie etwa der Zahlenfolge ). — Kann sein, dass man die harmonische Folge scheut wie der Teufel das Weihwasser. Hat man doch auf der hohen Schul gelernt, dass die harmonische Reihe divergiert, wogegen die geometrische Reihe bei einem Reproduktionsfaktor unter 1 konvergiert. Aber es geht in unserem Kontext gar nicht um die Reihe, sondern um die Folge.
Im 10×10-Quadratraster gibt es den bekannten Zwšlfpunktekreis (Abb. 6a). Hintergrund ist das Lehrerdreieck (rechtwinkliges Dreieck mit den SeitenlŠngen 3, 4, 5).
In einem Rechteckraster ergibt sich entsprechend eine Ellipse (Abb. 6b).
Abb. 6: Zwšlfpunktekreis und Zwšlfpunktellipse
In einer Perspektive ist das Bild eines Kegelschnittes wieder ein Kegelschnitt. In unserem Beispiel sind Ellipsen zu erwarten. In der Abbildung 7 wurde zunŠchst der Raster mit der falschen Methode der geometrischen Folge auf einen 10×10-Raster ausgedehnt und anschlie§end mit den 12 Punkten entsprechend der Abbildung 6 versehen.
Abb. 7: Keine Ellipse
Die Kurve durch diese zwšlf Punkte kann wohl kaum als Ellipse angesehen werden. Sieht eher aus wie der Humpty Dumpty. Test erneut negativ.
FŸr die folgenden AusfŸhrungen siehe auch Walser (2018).
Die Abbildung 8 zeigt eine korrekte Perspektive. Die Tiefenlinien verlaufen in den Fluchtpunkt.
Abb. 8: Korrekte Perspektive
Ausgehend von einem kartesischen u,v-Netz erhalten wir das Netz der Abbildung 8 durch die gebrochen linearen Abbildungsgleichungen:
(1)
Der Parameter v im Nenner fŸhrt zu einer Tiefenstaffelung im Sinne einer harmonischen Folge.
Die Abbildung 9 zeigt eine falsche Perspektive. Die AbstŠnde zwischen den Querlinien nehmen immer mit demselben Faktor ab. Die Tiefenlinien verlaufen ebenfalls in einen Fluchtpunkt.
Abb. 9: Falsche Perspektive
Das Netz der Abbildung 9 ist gegeben durch:
(2)
Der Parameter v in der Exponentialfunktion fŸhrt zu einer Tiefenstaffelung im Sinne einer geometrischen Folge.
In einer korrekten Perspektive erscheint eine Folge von †bereck-Diagonalen als Gerade (Abb. 10).
Abb. 10: Diagonalentest bei korrekter Perspektive
Alle zu dieser Diagonale parallelen Diagonalen verlaufen im Bild durch denselben Fluchtpunkt (Abb. 11).
Abb. 11: Diagonalen-Fluchtpunkte
Die Konterdiagonalen haben ebenfalls einen Fluchtpunkt. Die Fluchtpunkte liegen auf der sogenannten Horizontlinie.
Bei der falschen Perspektive der Abbildung 9 entsteht beim Diagonalentest eine gekrŸmmte Kurve (Abb.12).
Abb. 12: Diagonalentest bei falscher Perspektive
Die Kurve und die dazu ãparallelenÒ Kurven laufen oben in den Fluchtpunkt (Abb. 13). Dasselbe tun die Konterkurven. Wir haben also keine Horizontlinie, sondern einen ãHorizontpunktÒ.
Abb. 13: EinmŸnden in den Fluchtpunkt
Wir besprechen exemplarisch die Diagonalkurve . Aus (2) erhalten wir:
(3)
Elimination des Parameters u fŸhrt auf:
(4)
Durch die Koordinatentransformation (entspricht einer Spiegelung an der Winkelhalbierenden des 2. und 4. Quadranten)
(5)
erhalten wir die einfache Form:
(6)
Die Abbildung 14 zeigt den zugehšrigen Funktionsgrafen fŸr .
Abb. 14: Funktionsgraf
Die Funktion (6) ist ein dankbares Beispiel zur Kurvendiskussion und Integration.
FŸr den Tiefpunkt T erhalten wir:
(7)
Mit partieller Integration ergibt sich:
(8)
Insbesondere:
(9)
Die Figur lŠsst sich zu einem Kleeblatt zusammensetzen (Abb. 15). Das Kleeblatt passt in den Einheitskreis. Wegen (9) hat es den FlŠcheninhalt 2.
Abb. 15: Kleeblatt
Bei einer korrekten Zentralperspektive wird aus der Zwšlfpunktellipse (Abb. 6) wieder eine Ellipse, die durch die entsprechenden Gitterpunktbilder verlŠuft (Abb. 16). Das Bild des Ellipsenmittelpunktes ist allerdings nicht der Mittelpunkt der Bildellipse.
Abb. 16: Ellipse bei korrekter Perspektive
Bei einer falschen Perspektive ergibt sich der Humpty Dumpty (Abb. 7 und 17).
Abb. 17: Humpty Dumpty
Literatur
Schršder, Eberhard (1980): DŸrer. Kunst und Geometrie. DŸrers kŸnstlerisches Schaffen aus der Sicht seiner ÈUnderweysungÇ. Basel: BirkhŠuser. ISBN 3-7643-1182-7.
Walser, Hans (2018): Falsche Perspektive. MNU Journal – Ausgabe 2.2018. S. 87-89. ISSN 0025-5866. 2
Website
Hans Walser: Falsche Perspektive
www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/F/Falsche_Perspektive/Falsche_Perspektive.htm
Hans Walser: Kleeblatt
http://www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/K/Kleeblatt/Kleeblatt.htm