Hans Walser, [20150830]
Tangentenviereck als Gelenkmodell
Anregung: W. G., B und Chr. K., B.
Die Abbildung 1 zeigt zwei Positionen eines Gelenkmodells fŸr ein Tangentenviereck. Die jeweiligen Inkreise wurden nachtrŠglich eingezeichnet.
Abb. 1: Tangentenviereck
Ein Viereck mit den Seiten a, b, c, d ist genau dann ein Tangentenviereck, wenn gilt:
(1)
Das kann mit Tangentenabschnitten eingesehen werden. Oft wird der halbe Umfang einer Figur mit s bezeichnet. Im Falle eines Tangentenviereckes ist dann:
(2)
Die Bedingung (1) kann auch in der Form
(3)
geschrieben werden. In Worten: Die alternierende Seitensumme ist null.
Eine weitere Form ist die Differenzenform:
(4)
Im Beispiel der Abbildung 1 ist a = 10, b = 8, c = 5 und d = 7. Als Ma§einheit dient der Lochabstand.
Ein Viereck ist durch seine vier Seiten aber noch nicht festgelegt. Zu gegebenen vier SeitenlŠngen mit der Bedingung (1) gibt es also unendlich viele Tangentenvierecke. Dies legt die Idee des Gelenkmodells nahe dessen Seiten die Bedingung (1) erfŸllen. In jeder Position erhalten wir ein Tangentenviereck. Die Grš§e des jeweiligen Inkreises variiert aber.
Die Abbildung 2a zeigt nochmals das Gelenkmodell mit a = 10, b = 8, c = 5 und d = 7, aber die beiden kŸrzesten Seiten sind zusŠtzlich nach au§en verlŠngert.
Abb. 2: Nicht konvex
Dieses Gelenkmodell kann in eine nicht konvexe Position gebracht werden (Abb. 2b). Es hat dann immer noch einen Inkreis, der aber teilweise die nun nach innen verlaufenden VerlŠngerungen der Seiten berŸhrt.
Man kann sich nun fragen, in welcher Position das Tangentenviereck mit gegebenen Seiten den grš§ten Inkreis hat. Dies ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem grš§ten FlŠcheninhalt.
Allgemein hat ein beliebiges Viereck mit gegebenen SeitenlŠngen den grš§ten FlŠcheninhalt in der Position des Sehnenviereckes (isoperimetrisches Problem fŸr Vierecke). Beweis mit Differentialrechnung [1], [2]. Ein elementargeometrischer Beweis ist mir nicht bekannt.
Somit hat ein Tangentenviereck dann den grš§ten Inkreis, wenn es auch ein Sehnenviereck ist.
Wir kšnnen die Optimierung des Tangentenvierecks aber auch ohne Bezugnahme auf das Sehnenviereck bearbeiten. Dazu arbeiten wir mit den Bezeichnungen der Abbildung 3.
Abb. 3: Bezeichnungen
ZunŠchst ist:
(5)
Die Summe der halben Innenwinkel ist gleich :
(6)
Diese Gleichung (6) kšnnen wir mit CAS (Maple) nach r auflšsen und erhalten so die Funktion deren Maximum wir nach dem Ÿblichen Verfahren finden:
restart:
glg:=
arctan(r/x)+arctan(r/(a-x))+arctan(r/(b-a+x))+arctan(r/(c-b+a-x))=Pi;
sol:=solve(glg, r):
r=sol[1];
r:=x->sqrt(-(a+c)*(a^3-2*a^2*b+a^2*c-2*a^2*x+a*b^2-a*b*c+2*a*b*x-2*a*c*x+a*x^2+c*x^2))/(a+c):
xmax:=solve(diff(r(x), x)=0, x);
rmax:=simplify(r(xmax));
Flaechemax:=simplify((a+c)*rmax);
Wir erhalten:
Abb. 4: Ergebnisse
Wegen (1) und (2) ist:
(7)
(8)
(9)
Mit diesen Angaben ist das optimale Tangentenviereck mit Zirkel und Lineal konstruierbar.
Zu gegebenen Seiten a, b, c, d mit der Tangentenviereckbedingung (1) konstruieren wir zunŠchst in einer Nebenkonstruktion und und anschlie§end das optimale Tangentenviereck.
Die Nebenkonstruktionen verlaufen in einem Quadrat der SeitenlŠnge . Wir zeichnen dieses Quadrat und tragen auf der Deckgeraden die Strecken a und c sowie auf der Bodengeraden die Strecken b und d ab (Abb. 5). Die Abbildung 5a zeigt die Konstruktion von mit Hilfe des Strahlensatzes. Die Konstruktionsreihenfolge ist: schwarz (gegebene Daten), blau, grŸn, zyan, rot. Die Abbildung 5b zeigt die Konstruktion von . Verwendet werden dabei der Hšhensatz im rechtwinkligen Dreieck und der Strahlensatz.
Die Daten fŸr a, b, c, d entsprechen dem Modell der Abbildung 1.
Abb. 5: Nebenkonstruktionen
Nun zeichnen wir die Strecke und unter Verwendung von und den Inkreis (Abb. 6a). Dann kšnnen wir zum gesuchten optimalen Tangentenviereck ergŠnzen (Abb. 6b).
Abb. 6: Das optimale Tangentenviereck
Wir kšnnen das Gelenkmodell der Abbildung 1 Ÿber einen Kegel stŸlpen (Abb. 7). Wenn das Gelenkmodell festsitzt, hat es die optimale Position.
Abb. 7: StŸlplšsung
Das Gelenkmodell der Abbildung 1 kann auf zwei Arten zu einem Dreieck gestreckt werden (Abb. 8).
Abb. 8: Zum Dreieck gestreckt
Der Inkreis berŸhrt dann die gestreckte Seite genau im ãgestreckten EckpunktÒ also im Gelenkpunkt in welchem die beiden anschlie§enden Viereckseiten einen Winkel von 180¡ einschlie§en. Dies folgt aus (1) sowie dem Sachverhalt, dass in einem Dreieck der Tangentenabschnitt von einer Ecke zum BerŸhrungspunkt des Inkreises gleich der Differenz des halben Umfanges und der gegenŸberliegenden SeitenlŠnge ist.
Einfacher ist eine dynamische †berlegung: Das Gelenkmodell hat ja in jeder Position einen Inkreis, also auch bei AnnŠherung an die Sonderfallposition des Dreieckes. Die Tangentenabschnitte auf den vom zu streckenden Eckpunkt ausgehenden Seiten gehen dabei gegen Null. Also fallen die beiden auf diesen Seiten liegenden BerŸhrungspunkte zusammen und sind mit dem gestreckten Eckpunkt identisch.
Auch die beiden anderen BerŸhrungspunkte des Inkreises mit den Dreiecksseiten sind ganzzahlig. Dies folgt trivialerweise aus der ãGanzzahligkeitÒ unseres Modells.
Wird das Gelenkmodell eines beliebigen Vierecks zum Dreieck gestreckt haben wir keinen BerŸhrungspunkt im gestreckten Eckpunkt. Die Abbildung 9 zeigt ein Gegenbeispiel mit a = 10, b = 8, c = 7 und d = 4. Die Bedingung (1) fŸr das Tangentenviereck ist verletzt. Die BerŸhrpunkte der Inkreise sind weit daneben.
Abb. 9: Gegenbeispiel. Kein Tangentenviereck
Die Abbildung 10 zeigt ein ãŸberschlagenesÒ Viereck. Das Gelenkmodell in der Foto (Abb. 10b) ist allerdings kein Tangentenviereck, sondern das schon einmal (Abb. 9) verwendete Gegenbeispiel mit a = 10, b = 8, c = 7 und d = 4, wo die Bedingung (1) verletzt ist.
Abb. 10: †berschlagenes Viereck. Kein Tangentenviereck
TatsŠchlich gibt es kein Ÿberschlagenes Viereck, das die Bedingung (1) fŸr ein Tangentenviereck erfŸllt.
FŸr den Beweis arbeiten wir mit den Bezeichnungen der Abbildung 10a. Aus der Dreiecksungleichung fŸr die beiden Dreiecke mit dem Kreuzungspunkt als einem gemeinsamen Eckpunkt ergibt sich:
(10)
Das widerspricht der Bedingung (1).
Auf diesen Sachverhalt ist der Autor gesto§en, als er versuchte, aus dem Gelenkmodell fŸr das Tangentenviereck der Abbildung 1 ein Ÿberschlagenes Viereck zu machen. Dabei fand er auch die folgende Klappviereckeigenschaft.
Das Gelenkmodell eines Tangentenviereckes lŠsst sich zusammenklappen wie ein Taschenmesser (Abb. 11). Das zusammengeklappte Viereck ist so lang wie die lŠngste Viereckseite.
Abb. 11: Klappviereck
Genau die Tangentenvierecke sind Klappvierecke. Dies folgt aus (4) und der Struktur des zusammengeklappten Modells.
FŸr den Fall des Rhombus funktioniert das Zusammenklappen nur, wenn wir die Gelenkbreite vernachlŠssigen.
Wir bauen nun ein Gelenkmodell eines Tangentenviereckes auf der Basis des Klappviereckes. Dazu kleben wir einen Papierstreifen zu einem geschlossenen Band zusammen (Abb. 12). Dieses Band drŸcken wir nun flach und zwar so, dass insgesamt vier Faltlinien quer zum Streifen entstehen. Damit ergibt sich ein Gelenkmodell eines Tangentenviereckes, weil sich die Bedingung (4) von selber einstellt. Die Papierstreifen haben eine Tendenz, sich nicht im Sinne des Erfinders zu krŸmmen.
Abb. 12: FlachdrŸcken des geschlossenen Bandes
Die Abbildung 13 zeigt eine weitere Art eines Gelenkmodells fŸr ein Tangentenviereck, inspiriert durch das Modell der Abbildung 12. Dazu schneiden wir von einem eher starken Karton zwei gleich breite und gleich lange Streifen ab, den einen fŸr a + c und den anderen fŸr b + d. Diese Streifen zerschneiden wir beliebig in je zwei Teile und erhalten so die Seiten a, b, c, d. Die Gelenke bauen wir mit beidseitig angebrachten KlebebŠndern.
Abb. 13: Gelenkmodelle aus Kartonstreifen
Dieses Modell lŠsst sich auch im Fall des Rhombus zusammenklappen. Einigerma§en wenigstens.
Mathematiker sind gro§ im VernachlŠssigen und Idealisieren. Die Strecken im Gelenkmodell sind keine idealen Strecken. Sie haben eine gewisse Breite. Diese Breite wurde etwa in der Abbildung 10a gegenŸber dem realen Modell der Abbildung 10b schlicht vernachlŠssigt.
In Beispiel der Abbildung 1 wurde die Breite der Lochstreifen nicht vernachlŠssigt. Der Inkreis wurde nicht fŸr das ideale Viereck gezeichnet, sondern fŸr das Innenprofil (was die Fensterbauer das Licht nennen). Nun ist es allerdings so, dass das keine Rolle spielt, solange die Streckenbreite (gedacht als Streifenbreite) Ÿberall die gleiche ist (Abb. 14). Das Innenprofil, das ideale Tangentenviereck und auch das Au§enprofil haben je einen Inkreis. Diese drei Inkreise haben dasselbe Zentrum, ihre Radien differieren um die halbe Streifenbreite.
In der Abbildung 14a sind die Ecken auf Gehrung gezeichnet. Bei den meisten MetallbaukŠsten sind sie rund (Abb. 14b). Das hat aber keinen Einfluss auf den Inkreis des Au§enprofils.
Abb. 14: Tangentenviereck mit Streifenbreite
Nebenbemerkung: Wir kšnnen die analoge Frage fŸr Sehnenvierecke stellen. Da in einem Sehnenviereck die Summe gegenŸberliegender Winkel je 180¡ ist, die Winkel bei Parallelstreifen sich aber nicht Šndern, sind sowohl Innenprofil wie auch Au§enprofil je ein Sehnenviereck. Wo liegen die Zentren der Umkreise?
Wie Šltere Semester schon lange festgestellt haben, sind die Gelenkmodelle der Abbildungen aus Lochstreifen aus Gro§vaters Metallbaukasten gebaut. FŸr die Gelenke wurde allerdings systemwidrig mit MustertŸtenklammern gearbeitet. Das macht die Modelle zwar etwas wacklig, dafŸr tragen die Gelenke nur wenig auf.
Geht man im Modell der Abbildung 1 im positiven Sinn herum stellt man fest dass das jeweils folgende Lochband an drei Gelenkpunkten Ÿber das vorhergehende gelegt ist. Wir haben also dreimal ãaufÒ. Am vierten Gelenkpunkt geht es dann stark hinunter. Der Niveauunterschied wurde beim vierten Gelenkpunkt mit mehreren Unterlagscheiben kompensiert. Vom Šsthetischen Standpunkt aus ist das unbefriedigend. Die Lšsung ãauf-ab-auf-abÒ wŠre viel ausgeglichener. Dann hŠtte aber das Klappviereck (Abb. 11) nicht funktioniert. Ein topologisches Problem.
Bei MetallbaukŠsten werden die LochbŠnder nach der Lochzahl klassifiziert. In unserem Kontext ist aber die Anzahl der LochabstŠnde relevant. Diese ist um 1 kleiner als die Lochzahl. Allerdings macht es bei der Bedingung (1) nichts aus, wenn wir fŠlschlicherweise mit der Lochzahl arbeiten. Die Fehler kompensieren sich.
Die oben skizzierte Problematik taucht in vielen Beispielen im Unterricht auf. Oft ist es aber so, dass der Fehler sich nicht ausgleicht. Das klassische und abgegriffene Beispiel dazu ist die Frage nach der LŠnge einer Pappelallee, wenn die Anzahl der Pappeln und der Pappelabstand gegeben sind. Im Unterricht habe ich diesen Problemkreis etwas ironisch jeweils als ãPappelproblemÒ bezeichnet. Mit dem Erfolg, dass eine SchŸlerin an der mŸndlichen MaturitŠtsprŸfung in einem kombinatorischen Problem leise lŠchelnd sagte es handle sich hier um das Pappelproblem. Keine Pappel weit und breit.
Die Pappelaufgabe soll sicher nicht als Sachproblem oder als authentische Modellierungsaufgabe behandelt werden. Es geht darum, einem oft auftretenden AbzŠhlproblem eine Ikone zu geben.
Wenn Sie in Ihrem Leben in n Wohnungen gelebt haben, wie oft sind Sie dann umgezogen?
Websites
[1] FlŠchenoptimierung im Viereck:
www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/F/Fl_Opt_Viereck/Fl_Opt_Viereck.htm
[2] Isoperimetrische Vierecke mit gegebenen SeitenlŠngen:
www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/I/Isoper_Vielecke/Isoper_Vielecke.htm