Hans Walser, [20090304a], [20131023]
Winkeldefizite bei konvexen Polyedern
Anregungen: [Heinrich 2009], J. P. und P. H.
Die Summe der ebenen Winkel in einer konvexen Polyederecke ist kleiner als 360¡. Zu jeder Polyederecke gibt es also ein Winkeldefizit als ErgŠnzung auf 360¡.
Die Summe dieser Winkeldefizite ist konstant, nŠmlich 720¡. Die GedankengŠnge gehen auf RenŽ Descartes (1596-1650) zurŸck.
RenŽ Descartes (1596-1650). (Zeichnung B. S.)
Die Formel von Descartes ist Šquivalent zur Polyederformel von Euler (1707-1783).
Die Summe der ebenen Winkel in einer konvexen Polyederecke (das hei§t die Summe der Winkel, die zwischen den Kanten eine konvexen Ecke entstehen) ist kleiner als 360¡.
Wir bezeichnen mit E die Anzahl der Ecken, mit K die Anzahl der Kanten und mit F die Anzahl der SeitenflŠchen eines Polyeders.
Das totale Winkeldefizit scheint eine Invariante zu sein.
Ein weniger regelmŠ§iges Beispiel: Wir setzen einem WŸrfel eine Pyramide auf, deren SeitenflŠchen gleichschenklige Dreieck mit 36¡ an der Spitze sind.
WŸrfel mit Pyramidendach
Das Polyeder hat vier Basisecken mit einem Winkeldefizit von je 90¡, vier Ecken an der Pyramidenbasis mit einem Winkeldefizit von je 36¡¡ und die Spitze mit einem Winkeldefizit von 216¡. Das totale Winkeldefizit ist .
Das totale Winkeldefizit eines konvexen Polyeders ist .
Wir denken uns zum Polyeder die Šu§ere ãParallelflŠcheÒ im Abstand 1. Das ist die Menge aller Punkte, welche im Au§enraum des Polyeders liegen und von der OberflŠche des Polyeders den Abstand 1 haben. Die Abbildung zeigt links den WŸrfel und rechts seine ParallelflŠche.
WŸrfel und ParallelflŠche
Die folgende Abbildung zeigt allgemein eine Polyederecke und ihre ParallelflŠche.
Polyederecke und ParallelflŠche
Die ParallelflŠche besteht zunŠchst aus ebenen FlŠchenstŸcken, welche zu den ursprŸnglichen SeitenflŠchen kongruent sind. Den ursprŸnglichen SeitenflŠchen sind gerade Prismen der Hšhe 1 aufgesetzt.
†ber den ursprŸnglichen Kanten liegen Zylindersektoren. Solche Zylindersektoren kann man sich als SpŠlten (Spaltholz) denken, welche beim Scheiten (Holzhacken) aus TrŠmeln (Rundholz) entstehen.
Zylindersektor
Die ursprŸnglichen Kanten des Polyeders sind die Zylinderachsen, die Sektorwinkel sind die Au§enwinkel des jeweiligen Winkels zwischen den FlŠchen an der betreffenden Kante. Die Abwicklungen der MantelflŠchen dieser Zylindersektoren sind Rechtecke.
†ber den ursprŸnglichen Ecken ergeben sich sphŠrische Vielecke. Die Abbildung zeigt ein sphŠrisches Viereck.
SphŠrisches Vieleck
Die Innenwinkel dieser
sphŠrischen Vierecke sind die ErgŠnzungswinkel der ansto§enden
SeitenflŠchenwinkel auf , da wir im selben Punkt noch zwei rechte Winkel von den
Zylindersektoren haben. Ein solches sphŠrisches Vieleck wird als sphŠrisches Bild der betreffenden
Polyederecke bezeichnet. Je ãspitzerÒ die Ecke, um so grš§er das sphŠrische
Bild.
FŸr den FlŠcheninhalt
dieser sphŠrischen Vielecke verwenden wir die Formel:
Dabei sind die Innenwinkel des sphŠrischen Vieleckes und n die Eckenzahl. Ist der ansto§ende Winkel der ebenen SeitenflŠche, so ist . FŸr den FlŠcheninhalt des sphŠrischen Vieleckes erhalten wir:
Das ist aber das Winkeldefizit an der betreffenden Ecke.
Nun kšnnen wir — und das ist das entscheidende Argument in der BeweisfŸhrung —
die sphŠrischen Vielecke aller Ecken passgenau zur Einheitskugel zusammenfŸgen.
Diese hat den die
GesamtoberflŠche . Somit ist das totale Winkeldefizit .
An jeder Polyederecke ist das Winkeldefizit minus die Summe der ansto§enden SeitenflŠchenwinkel. Das totale Winkeldefizit ist somit minus die totale Summe aller SeitenflŠchenwinkel. Diese totale Winkelsumme berechnen wir nun Ÿber die SeitenflŠchen. FŸr eine SeitenflŠche erhalten wir die Winkelsumme als , wobei n die Eckenzahl und damit auch die Kantenzahl dieser SeitenflŠche ist. Da zu jeder Kante genau zwei SeitenflŠchen gehšren, ist die totale Winkelsumme gleich . FŸr das totale Winkeldefizit erhalten wir somit
Daher ist:
Die Aussage wird als Eulersche Polyederformel bezeichnet.
Leonhard Euler (1707-1783). (Zeichnung B. S.)
Zu einem ebenen konvexen Polygon zeichnen wir die Šu§ere ãParallelkurveÒ im Abstand 1. Diese besteht aus Strecken, welche kongruent zu den Polygonkanten sind sowie Kreissektoren Ÿber den Ecken. Die Sektorenwinkel sind die Au§enwinkel des Polygons. Diese Sektoren kšnnen wir passgenau zum Einheitskreis zusammensetzen. Daher ist die Au§enwinkelsumme gleich 2¹.
Polygon, Parallelkurve und Eckenbild
Ein konvexes Polyeder mit kongruenten Ecken hei§t eckenregulŠres Polyeder. In diesem Fall haben alle Ecken dasselbe Winkeldefizit, dieses muss also ein Teiler von sein. Wir haben damit eine notwendige Bedingung, mit der wir rein rechnerisch gewisse FŠlle ausschlie§en kšnnen.
Im Folgenden besprechen wir ausfŸhrlich ein konkretes Beispiel.
Beispiel nach [Heinrich 2009, S. 56]: An jeder Ecke sollen ein Quadrat und zwei regulŠre Dreiecke zusammensto§en. Das Winkeldefizit ist . Das ist kein Teiler von 720¡. So geht es also nicht.
NatŸrlich kann das auch rein raumgeometrisch eingesehen werden: Wir beginnen gemŠ§ Figur links mit einem roten Quadrat ABCD, einem grŸnen Dreieck BCE und einem blauen Dreieck CDE und bilden damit eine rŠumliche Ecke C. Nun sollten wir an der Ecke E ein Quadrat ansetzen, da wir schon zwei Dreiecke haben. Wir mŸssen also die drei Punkte DEB zu einem Quadrat DEBF ergŠnzen. An und fŸr sich geht das problemlos, nur schneidet dieses Quadrat das rote Quadrat ABCD. Das Problem ist also die Selbstdurchdringung.
Selbstdurchdringung
Wenn wir bei einem Polyeder eine Ecke abschneiden, erhalten wir als Schnittfigur die Eckenfigur der betreffenden Ecke. Tetraeder, WŸrfel und Dodekaeder haben regelmŠ§ige Dreiecke als Eckenfiguren, das Oktaeder hat Quadrate als Eckenfiguren und das Ikosaeder regelmŠ§ige FŸnfecke. Die Ecke C in der obigen Figur, welche durch ein Quadrat und zwei Dreiecke gebildet wird, hat als Eckenfigur ein Dreieck, das man mit Vorteil als gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck zeichnet.
Eckenfigur der Ecke C
Die Eckenfigur ist ein Polygon, dessen Seiten den SeitenflŠchen des Polyeders und dessen Ecken den Kanten des Polyeders entsprechen.
Nun machen wir aus der Not eine Tugend. Weil das Winkeldefizit von 150¡ nicht passt, machen wir es passend, indem wir das totale Winkeldefizit vergrš§ern. Das kleinste gemeinsame Vielfache des Winkeldefizits 150¡ und des totalen Winkeldefizits 720¡ ist:
Die Koeffizienten 24 und 5 in der obigen Gleichung haben beide, wie wir sehen werden, eine geometrische Bedeutung.
Die Punkte A, B, C, D, E und F sind die Ecken eines regulŠren Oktaeders.
Oktaeder
Wir Ÿberlagern dieses Oktaeder mit einem neuen Polyeder: Das Oktaeder hat acht gleichseitige Dreiecke sowie im Innern drei Quadrate. Wir nehmen nun diese FlŠchenstŸcke je doppelt. FŸr das neue Polyeder gilt also:
Die 16 Dreiecke und 6 Quadrate haben insgesamt einzelne Ecken. Da an jeder Polyederecke zwei Dreiecke und ein Quadrat, also drei SeitenflŠchen zusammensto§en, ergibt sich fŸr das neue Polyeder:
Das neue Polyeder hat also 24 Ecken. Diese Zahl 24 kam schon oben bei der Berechnung des kleinsten gemeinsamen Vielfachen vor: . Damit das schšn aufgeht, mŸssen wir also die 6 Ecken des Oktaeders je vierfach zŠhlen.
Die 16 Dreiecke und 6 Quadrate haben insgesamt auch einzelne Kanten. Da an jeder Kante 2 SeitenflŠchen zusammensto§en, ergibt sich fŸr das neue Polyeder:
Das neue Polyeder hat also 36 Kanten. Wir mŸssen die 12 Kanten des Oktaeders je dreifach zŠhlen.
Da wir jede Oktaederecke vierfach zŠhlen, haben wir dort vier Eckenfiguren oder oben dargestellten Art. Die viere Eckenfiguren durchdringen sich gegenseitig.
Eckenfiguren des neuen Polyeders, an einer Oktaederecke appliziert
Wir sehen, dass die Dreiecksseiten des Oktaeders je doppelt zu zŠhlen sind (ãRandlinienÒ der Figur) und ebenso die Quadrate im Innern (ãDiagonalenÒ der Figur). Die Kanten des Oktaeders sind je dreifach zu zŠhlen (ãEckenÒ der Figur).
Und wie steht es mit der Polyederformel von Euler? Wir erhalten:
Es ergibt sich das FŸnffache des fŸr ein gewšhnliches konvexes Polyeder geltenden Wertes 2. Diese Zahl 5 ist uns aber oben schon bei der Berechnung des kleinsten gemeinsamen Vielfaches begegnet: . Aber wie ist diese Zahl 5 geometrisch zu verstehen? Dazu studieren wir die Analogie zu ebenen Polygonen.
FŸr eine konvexes Polygon hatten wir die Au§enwinkelsumme 360¡. Bei einem eckenregulŠren Polygon muss also der Au§enwinkel ein Teiler von 360¡ sein. Beispiel: Beim regulŠren FŸnfeck haben wir einen Innenwinkel von 108¡ und somit einen Au§enwinkel von 72¡, einem FŸnftel der Au§enwinkelsumme von 360¡. Wie ist es nun mit einem eckenregulŠren Polygon mit einem Innenwinkel von 36¡? Wir haben in diesem Fall einen Au§enwinkel von 144¡, das ist aber kein Teiler von 360¡. FŸr das kleinste gemeinsame Vielfache von 144¡ und 360¡ finden wir:
Das gesuchte Polygon hat also 5 Ecken. Eine mšgliche Lšsung ist das so genannte Pentagramm.
Pentagramm und ein Weg ins Freie
Ein Uruk-hai U, der sich aus dem Innern des Pentagramms ins Freie bewegen mšchte, muss im Regelfall zwei Mal eine Polygonseite durchbrechen. Daher die Zahl zwei.
FŸr einen Uruk-hai U im Zentrum unseres Polyeders ist es ein bisschen eng, weil dort drei Paare von wechselseitig orthogonalen Ebenen (die Quadrate, wir erinnern uns) durchlaufen. Der Uruk-hai sitzt also in einer infinitesimal kleinen kubischen Kiste, deren WŠnde aber au§erhalb der Kiste weitergehen.
Ein Weg ins Freie muss daher im Regelfall drei der sechs KistenwŠnde durchbrechen. Im Beispiel der Figur ist die Seitenwand rechts bereits durchbrochen. Als nŠchstes mŸssen die Ebene der rŸckwŠrtigen Kistenwand und schlie§lich die Bodenebene durchbrochen werden.
Der Weg aus der Kiste
Dann ist man aber noch nicht im Freien, sondern muss noch eine doppelt zu zŠhlende DreiecksflŠche durchbrechen. Insgesamt also fŸnf DurchbrŸche. †berzeugend, nicht?
Und nun die Abwicklung unseres Polyeders. Doppelt zu zŠhlende FlŠchen sind in der gleichen Farbe angegeben. Je die beiden Dreiecke gleicher Farbe erscheinen in dieser Abwicklung gleich orientiert. Je die beiden Quadrate gleicher Farbe erscheinen aber entgegengesetzt orientiert.
Abwicklung
Diese Abwicklung gibt Nachbarschaftsbeziehungen zwischen FlŠchenstŸcken wieder. Sie gestattet wegen der Selbstdurchdringungen aber nicht, das Polyeder als Modell zu bauen.
Die folgenden vier Bauteile fŸr unser Polyeder nehmen auf die Selbstdurchdringungen RŸcksicht. (Im Anhang sind die vier Bauteile vergrš§ert wiedergegeben.)
Bauteile
Da sich die Quadrate lŠngs der Diagonalen gegenseitig durchdringen, enthalten die Bauteile immer nur Viertelquadrate. Wir haben insgesamt zum Beispiel acht rote Viertelquadrate, weil das rote Quadrat doppelt vorkommen muss. Die Dreiecke sind immer nur zu zwei Dritteln vorhanden. Es hat zum Beispiel drei dunkelblaue Zweidritteldreiecke, weil das dunkelblaue Dreieck doppelt vorkommen muss.
Die Bauteile sind auszuschneiden und lŠngs der schwarzen Binnenkanten zu falten, sŠmtliche Faltlinien gehen in dieselbe Richtung. Die folgenden Fotos beziehen sich auf das Bauteil 1.
Ausschneiden und Falten
Im Zentrum des Bauteils erkennen wir je einen Viertel eines der drei Quadrate. Anschlie§end finden sich drei Zweitdritteldreiecke derselben Farbe. Wir fŸgen nun diese drei Zweidritteldreiecke zu einem doppelt Ÿberlagerten Dreieck zusammen. Auf der Au§enseite sieht das dann aus gemŠ§ der folgenden Foto.
Au§enseite mit einem zusammengefŸgten Dreieck
Wir sehen, dass das Dreieck drei Durchdringungslinien hat, je von der Mitte aus zu einer Ecke. Dies kann man sich wie folgt erklŠren.
Wir sind alle so sozialisiert worden, dass bei der komplexen Funktion das Bild die w-Ebene doppelt Ÿberlagert wird, wie dies auch bei unserem Dreieck der Fall ist. Und das wird in der Regel so illustriert, dass lŠngs eines vom Ursprung ausgehenden Strahls eine Durchdringungslinie zu denken ist.
Riemannsche FlŠche
Das ist aber willkŸrlich. Wir kšnnen eben so gut drei vom Ursprung ausgehende Durchdringungsstrahle nehmen.
Variante: Drei Durchdringungslinien
Damit haben wir die Situation der Selbstdurchdringung unserer Dreiecke.
Auf der Innenseite unseres Modells entsteht eine Dreikantpyramide mit drei verschiedenfarbenen Viertelquadraten als SeitenflŠchen. Die Pyramidenspitze wird spŠter zum Zentrum unseres Polyeders. Die SeitenflŠchen der Pyramide stellen einen Achtel der sich orthogonal durchdringenden Quadrate dar.
Innenseite
Wenn wir die Šu§ersten Dreiecke, welche Viertelquadrate sind, einbiegen, erkennen wir, wie sich die drei sich gegenseitig orthogonal durchdringenden Quadrate weiterentwickeln.
Teile der drei Quadrate
Wir bearbeiten die drei Ÿbrigen Bauteile analog und fŸgen die Teile dann zusammen. Dabei kšnnen wir uns an den Farben orientieren. Im folgenden Bild sind drei der vier Teile zusammengefŸgt. Wir sehen immer noch in das Modell hinein. Insbesondere sehen wir schon fast die drei sich gegenseitig orthogonal durchdringenden Quadrate.
Drei der vier Teile sind zusammen
In der Schlussphase braucht es ein wenig sanfte Gewalt, FingerspitzengefŸhl also.
Das fertige Modell ist von au§en gesehen wenig spektakulŠr, ein Oktaeder eben.
Das fertige Modell
Literatur
[Heinrich 2009] Heinrich, Frank: Existenz- und Eindeutigkeitsbetrachtungen bei rŠumlichen archimedischen Gebilden. MU Der Mathematikunterricht. Polyeder im Mathematikunterricht. Jahrgang 55. Heft 1. Februar 2009. Friedrich Verlag, Seelze. S. 48-60
[Walser 2011] Hans Walser: Winkeldefizite bei konvexen Polyedern. Mathematikinformation, Nr. 54, 15. Januar 2011, S. 44-51. ISSN 1612-9156.
Anhang
Im Folgenden sind die vier Bauteile in Gro§format wiedergegeben.
Tipp: Die vier Bauteile ausdrucken, die Figuren passgenau aufeinander legen und die vier BlŠtter au§erhalb der Figuren mit Stapelklammern fixieren. Dann braucht man nur das oberste Bauteil mit Lineal und Japanmesser auszuschneiden. Den Schnitt mšglichst auf der Innenseite der schwarzen Randlinie durchfŸhren, damit wir beim Zusammenbau etwas Spielraum fŸr die Papierdicke haben.
Bauteil 1
Bauteil 2
Bauteil 3
Bauteil 4