Hans Walser
Halbreguläre Figuren
Graz, Tag der Mathematik, Do, 8. Februar 2024
Zusammenfassung: Bei einem regulären Fünfeck klappen wir eine Ecke ein und erhalten als Restfigur ein zwar noch gleichseitiges, aber nicht mehr gleichwinkliges Fünfeck. Damit können wir Parkette auslegen sowie Bandornamente und Spiralen, ebenso Flächenfüllungen mit Drehsymmetrie.
Mit zwölf halbregulären Fünfecken lässt sich ein halbreguläres Dodekaeder bauen. Es ist die Ergänzung zu einem regulären Dodekaeder und hat dieselbe Topologie. Das halbreguläre Dodekaeder ist ein Stern mit acht Spitzen, aber verschieden vom Kepler-Stern. Zusammen mit dem regulären Dodekaeder lässt sich der Raum lückenlos und überlappungsfrei ausfüllen.
Das reguläre Fünfeck kann nicht für eine Parkettierung der Ebene verwendet werden. Es bleibt eine Lücke von 36° (Abb. 1).
Abb. 1: Keine Parkettierung mit regelmäßigen Fünfecken
Wir modifizieren das reguläre Fünfeck: Wir klappen eine Ecke ein (Abb. 2). Die Restfigur ist ein halbreguläres Fünfeck. Es hat zwar gleich lange Seiten, aber ungleiche Winkel.
Abb. 2: Halbreguläres Fünfeck
Zusammen mit dem regulären Fünfeck kann das halbreguläre Fünfeck für eine Parkettierung der Ebene verwendet werden (Abb. 3a).
Abb. 3: Parkett mit regulären und halbregulären Fünfecken
Das Parkett enthält Translationssymmetrie (blaue Pfeile in Abb. 3b), Achsensymmetrie (rot) und Schubspiegelsymmetrie (violett).
Die Abbildung 4 zeigt eine Unterteilung der Ebene mit fünfteiliger Drehsymmetrie.
Abb. 4: Fünfteilige Drehsymmetrie
Wir können aber auch mit dem halbregulären Fünfeck allein arbeiten.
Die Abbildung 5 zeigt ein Bandornament. Es hat nur Translationssymmetrie. Wenn wir die Farben ignorieren, erhalten wir zusätzlich Schubspiegelsymmetrie.
Abb. 5: Bandornament
Die Abbildung 6a zeigt eine Stapelung des Bandornamentes der Abbildung 5.
Hier werden wir leicht das Opfer einer optischen Täuschung. Sind die horizontalen Linien parallel?
Die Abbildung 6b zeigt ein eleganteres Beispiel ohne Bandornamente.
Worin besteht der Unterschied zwischen den Parketten der Abbildungen 6c und 6d?
Abb. 6: Parkette
Die Abbildung 7a zeigt eine Konstellation mit konzentrischen Ringen. In der Abbildung 7b sind die Farben so ausgetauscht worden, dass immer verschiedene Farben an einer Kante erscheinen.
Abb. 7: Konzentrische Ringe
In der Abbildung 8a sehen wir zunächst keine Struktur. Tatsächlich enthält die Figur aber eine Spirale konstanter Breite, also eine archimedische Spirale (Abb. 8b).
Abb. 8: Spirale
In der Abbildung 9 haben wir zwei beziehungsweise zehn Spiralen.
Abb. 9: Weitere Spiralen
Aus zwölf regulären Fünfecken können wir das reguläre Dodekaeder bauen (Abb. 10a). Zusammen mit dem regulären Tetraeder, dem Würfel, dem regulären Oktaeder und dem regulären Ikosaeder gehört es zu den fünf platonischen Körpern.
Abb. 10: Reguläres und halbreguläres Dodekaeder
Mit zwölf halbregulären Fünfecken können wir entsprechend das halbreguläre Dodekaeder bauen (Abb. 10b). Das halbreguläre Dodekaeder wurde von Carl Kemper (1881-1957) beschrieben. Es wird daher auch als Kemper-Stern bezeichnet.
Das halbreguläre Dodekaeder passt offensichtlich in einen Würfel (Abb. 11b). Wir können aber auch auf den Seiten des regulären Dodekaeders einen Würfel einzeichnen (Abb. 11a).
Abb. 11: Zusammenhang mit dem Würfel
Wir können daher das reguläre Dodekaeder als Würfels mit sechs aufgesetzten Walmdächern sehen. Überraschenderweise ist das halbreguläre Dodekaeder genau die Restfigur nach dem Abschneiden von sechs Walmdächern vom Würfel. Wir können daher das reguläre Dodekaeder als „positiv“ und das halbreguläre Dodekaeder als „negativ“ sehen. Der Walmdachüberschuss des regulären Dodekaeders entspricht dem Walmdachdefizit des halbregulären Dodekaeders.
Die Abbildung 12 zeigt den Zusammenhang zwischen den beiden Dodekaedern.
Abb. 12: Walmdächer
Das Walmdach in der Bildmitte wandert vom Würfel rechts (Abb. 12b) zum Würfel links (Abb. 12a). Das erinnert an die Situation von Anionen und Kationen in der Chemie.
Das einzelne Walmdach hat die Ausmaße gemäß Abbildung 13.
Abb. 13: Ausmaße eines Walmdaches
Dabei bezeichnet
den Goldenen
Schnitt (Walser 2013)
. Die Firsthöhe des Walmdaches ist
.
Das halbreguläre Dodekaeder ist ein Stern mit acht Spitzen (Abb. 14b). Es unterscheidet sich aber vom ebenfalls achtspitzigen Kepler-Stern (stella octangula, Abb. 14a).
Abb. 14: Kepler-Stern und halbreguläres Dodekaeder
Das reguläre und das halbreguläre Dodekaeder haben unterschiedliche Symmetriegruppen. Das reguläre Dodekaeder hat (trivialerweise) die Symmetriegruppe des Dodekaeders, das halbreguläre Dodekaeder hat nur die Symmetriegruppe des regulären Tetraeders.
Das reguläre und das halbreguläre Dodekaeder haben dieselbe Topologie (Abb. 15 und 16).
Beide haben 20 Ecken, aber im halbregulären Dodekaeder sind 12 der 20 Ecken hyperbolisch.
Abb. 15: Ecken, Kanten und Seitenflächen
Beide haben 30 Kanten, aber im halbregulären Dodekaeder sind 6 der 30 Kanten wie eine Talsohle.
Das reguläre Dodekaeder hat 12 reguläre Fünfecke als Seitenfläche, das halbreguläre Dodekaeder aber 12 halbreguläre Fünfecke.
Die Abbildung 16 zeigt den topologischen Zusammenhang zwischen Ecken und Kanten. Hierin unterscheiden sich das reguläre und das halbreguläre Dodekaeder nicht.
Abb. 16: Diagramme
Die Abbildung 17 zeigt ein Papiermodell des halbregulären Dodekaeders.
Abb. 17: Papiermodell
Für das Modell werden 6 Bauteile gemäß Abbildung 18 benötigt. Die schwarzen Linien sind Schnittlinien, die rote Linie ist ein Talfalt und die blauen Linien sind Bergfalte.
Abb. 18: Schnittmuster
Die roten Teile sind im Modell außen sichtbar. Die grauen Teile werden seitlich eingesteckt.
Tipp: Das Modell ist nicht besonders stabil. Ich habe daher zunächst ein Unterbaumodell in reduzierter Größe (98%) gebaut und darüber als zweite Lage das eigentlich Modell.
Wegen der relativen Situation zwischen den beiden Dodekaedern (Abb. 12) kann das reguläre Dodekaeder dem halbregulären Dodekaeder aufgesetzt werden wie ein Ei auf den Eierbecher (Abb. 19).
Abb. 19: Ei und Eierbecher
Weder das reguläre noch das halbreguläre Dodekaeder sind „Raumfüller“ (Coxeter 1973, S. 68f), mit denen der Raum lückenlos und überlappungsfrei aufgefüllt werden könnte. Hingegen können wir den Raum mit einer Kombination von regulären und halbregulären Dodekaedern gemäß Abbildung 19 auffüllen (Abb. 20).
Abb. 20: Raumfüller
Die Figur der Abbildung 20 ist das räumliche Analogon zur Figur der Abbildung 3.
Der Beweis für die Raumfüllungseigenschaft ist einfach: Der Würfel ist ein Raumfüller. Wir denken uns nun in einer Würfel-Raumfüllung die einzelnen Würfel schwarz und weiß gefärbt wie ein dreidimensionales Schachbrett. Darin können wir von den schwarzen Würfeln je sechs Walmdächer abspalten und an die benachbarten weißen Würfel anheften.
Die Abbildung 21 zeigt eine Folge von Dodekaedern.
Abb.
21: Dodekaeder-Transformationen
Die Idee dabei ist,
dass wir an die zwölf Kanten eines Würfels Ebenen mit gleichem Neigungswinkel
gegenüber den Würfelseiten anlegen. Wir beginnen mit einem Winkel von 45° (Abb.
22).
Abb. 22: Winkel
von 45°
Dies führt zum
Rhombendodekaeder (Abb. 23 und 24).
Abb. 23:
Rhombendodekaeder mit Würfel
Abb. 24:
Rhombendodekaeder ohne Würfel
Nun verkleinern wir
den Neigungswinkel auf arctan(1/Φ) ≈ 31.717°. Damit
erhalten wir das regelmäßige Dodekaeder (regelmäßiges Pentagondodekaeder) (Abb.
25). Das regelmäßige Dodekaeder ist einer der fünf platonischen Körper.
Abb. 25:
Regelmäßiges Dodekaeder
Wird der
Neigungswinkel auf 0° verkleinert, entsteht ein Würfel (Abb. 26).
Abb. 26: Würfel
mit geschlossenen Fensterläden
Nun verkleinern wir
den Neigungswinkel weiter auf –arctan(1/ Φ) ≈ –31.717°. Es entsteht das halbreguläre
Dodekaeder (Kemper-Stern) (Abb. 27).
Abb. 27:
Halbreguläres Dodekaeder
Bei einem Neigungswinkel
von –45° bleiben nur die Raumdiagonalen des Würfels übrig (Abb. 28).
Abb. 28:
Raumdiagonalen des Würfels
Bei einem
Neigungswinkel von –arctan(Φ) ≈ –58.283° ergibt sich der sogenannte Ikosaederstern
(manchmal auch als großes Dodekaeder bezeichnet) (Abb. 29). Dies ist einer der
vier Poinsot-Körper. Er hat Selbstdurchdringungen. Die
zwölf Seitenflächen sind regelmäßige Pentagramme.
Abb. 29: Ikosaederstern
Literatur
Coxeter, H.S.M. (1973): Regular Polytopes.
Third Edition. New York: Dover 1973. ISBN 0-486-61480-8.
Walser, Hans (2013): Der Goldene Schnitt. 6., bearbeitete und erweiterte Auflage. Edition am Gutenbergplatz, Leipzig. ISBN 978-3-937219-85-1.
Websites
[1] Stella octangula (abgerufen 14.12.2023)
http://mathworld.wolfram.com/StellaOctangula.html