Hans Walser

 

 

Umwšrter

 

50. Jahrestagung der Gesellschaft fŸr Didaktik der Mathematik

07.03. bis 11.03.2016

Heidelberg

 

Zusammenfassung

Das treibt uns alle um. Umwšrter sind AusdrŸcke oder Formulierungen, die auf sich selber zurŸckkommen. Es werden einige Beispiele aus dem Unterrichtsalltag diskutiert. Zur Sprache kommen insbesondere VerspŠtungen, Max und Moritz, sprachlich bedingte TrugschlŸsse, Lern-Umgebungen, schiefer Pythagoras, Parkett.

1        Umwšrter

In Ulm und um Ulm und um Ulm herum

ZunŠchst kšnnen einfach Wšrter mit der Vorsilbe um- als Umwšrter bezeichnet werden. Dann aber auch Wšrter und AusdrŸcke mit einer zyklischen Bedeutung, aber auch ZirkelschlŸsse oder Tautologien.

2        Beispiele

2.1      VerspŠtung

Der EC 8 nach ZŸrich erhŠlt 21 Minuten VerspŠtung. Grund dafŸr sind Verzšgerungen im Betriebsablauf.

ZunŠchst: PŸnktlichkeit ist eine Kardinaltugend. VerspŠtungen werden auf die Minute genau angegeben. Nachdem die Kardinaltugend der PŸnktlichkeit auf der Basisebene des Bahnbetriebes nicht mehr funktioniert, wird sie auf die Metaebene der Beschreibung der UnpŸnktlichkeit verlagert. PŸnktlich sind wir allemal.

Die angebliche BegrŸndung mit den Verzšgerungen im Betriebsablauf ist nur eine Umschreibung des Basisbegriffs VerspŠtung. Durch die breitere Formulierung soll wohl der Eindruck einer inhaltlichen BegrŸndung entstehen.

2.2      Winkel

Winkelbegriff: Ètwo lines meeting at a point with an angular relation between themÇ (Mitchelmore und White, 1998, S. 5).

FŸr einen au§enstehenden Leser kann diese Formulierung als Tautologie erscheinen.

2.3      Testfrage

Wie lautet der Fachausdruck fŸr Fachausdruck? — Als korrekte Antworten sind Fachausdruck und Terminus technicus zugelassen.

2.4      Hilfe zur Selbsthilfe

Hilfe zur Selbsthilfe. Weiter keine Hilfe. Also keine Hilfe. Hilfe zur Selbsthilfe.

2.5      Lernen lernen

Lernen lernen: Wer lernen kann, brauchtÕs nicht mehr zu lernen. WerÕs nicht kann, kannÕs auch nicht lernen.

2.6      Der Klassiker

Wovon man nicht sprechen kann, darŸber muss man schweigen (Wittgenstein 1922, Schlusssatz).

2.7      Zitat

Der Buchstabe tštet, der Geist macht lebendig. 2. Kor 3,6.

Die Koordinaten am Ende des Satzes machen das Zitat zu einer Buchstabenagglo.

3        Umfang

An einem Wochenende im Mathematikum in Gie§en [1] studierte ich die Relation zwischen den Besuchern und den Exponaten (ãMuseumsblickÒ).

Ein Exponat besteht aus einem Rad mit einem Stift am Rand. Dieser fŠhrt beim Abrollen des Rades Ÿber die Kontur einer Zykloide (Abb. 1). Ein etwas angejahrter Mann fuhr mit dem Finger die Kontur der Zykloide entlang und erklŠrte seiner Begleiterin, das sei der Weg eines Kreispunktes bei einer Umdrehung, also der Umfang des Kreises. — Es ist schwer, dieser Argumentation zu begegnen. Als ich dann endlich meine Gedanken geordnet hatte, waren die beiden verschwunden. Man soll nie Ÿber den eigenen Unterricht reflektieren, sonst verliert man den Anschluss an seine SchŸler.

 

Abb. 1: Abrollen eines Rades, Zykloidenbogen

Abb. 2: Christopher Wren (1632-1723)

Nun ist es so, dass die LŠnge eines Zykloidenbogens bereits von Christopher Wren (1632-1723) berechnet wurde: Beim Abrollen eines Rades mit dem Radius r ergibt sich fŸr den Zykloidenbogen die LŠnge 8r. Dies ist ein bemerkenswertes ganzzahliges Resultat, das die irrationale Kreiszahl  nicht enthŠlt (Abb. 3).

Abb. 3: LŠngenverhŠltnisse

Die ãrichtigeÒ UmfanglŠnge  erscheint am Boden als abgerollte Strecke.

Den Umfang erhalten wir als WeglŠnge eines Kreispunktes bei einer Umdrehung, wenn das drehende Rad nicht rollt. Das ist die Situation, in der man Schneeketten montieren muss, um weiterzukommen.

4        Weg und Umweg

Weg und Umweg werden als Gegensatzpaar verstanden, das eine definiert sich durch das andere.

4.1      Umweg

Die Abbildung 3 ist eine Illustration des Satzes, dass der Umweg lŠnger ist als der direkte Weg. Als Argument fŸr diesen Satz wird oft vorgebracht, dass der direkte Weg eben der kŸrzeste Weg ist und daher kŸrzer als jeder Umweg.

Es dŸrfte schwerfallen, SchŸlerinnen und SchŸler zu einem Beweis etwa der Dreiecksungleichung zu motivieren.

4.2      Der direkte Weg

Abb. 4: Vorgeschriebene Fahrtrichtung: geradeaus

Immer der Nase nach.

... so geh hŸbsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab! (Grimm 1812)

 

La l’nia recta Žs creaci— de l'home; la l’nia corba, de DŽu. (Antoni Gaud’)

Keine SeitenkrŸmmung, geodŠtische Linie:

 

                                                                                                             (1)

 

5        Schere – Stein – Papier

Die englische Sprechweise ist Rock – Paper – Scissors. Die Reihenfolge ist anders, die zyklische Reihenfolge aber gleich.

Abb. 5: Kreisverkehr

5.1      Bemerkung zum Drehsinn

Der positive Drehsinn wird in der Regel als Gegenuhrzeigersinn serviert. Wegen der Umkehrung Gegen- ist das eine schlechte Merkregel. Besser ist (in LŠndern mit Rechtsverkehr) eine Anlehnung an den Kreisverkehr.

5.2      Nostalgisches Beispiel

Max und Moritz: LŠmpel ist dumm

Lehrer LŠmpel: Pestalozzi ein Versager

Pestalozzi: Max und Moritz mŸssen an Kopf, Herz und Hand gefšrdert werden

5.3      Aktuelles Beispiel

Die folgenden gelegentlich gehšrten Aussagen sind wohl nur zur HŠlfte wahr.

(1) SchŸler: Lehrer sind dumm

(2) Lehrer: Didaktiker gescheiterte Lehrer

(3) Didaktiker: Ohne Zweifel besteht Konsens in der Community, dass SchŸlerinnen und SchŸler nachhaltig gefšrdert werden mŸssen.

Relativierungen:

(1) Die Aussage kann personalisiert so formuliert werden:

 

                                                                                         (2)

 

Kommentar des Mathematiklehrers: Diese authentische SchŸlerformulierung zeigt, dass der SchŸler den Limes-Begriff nicht verstanden hat. Er hŠtte ebenso gut Gro§hirn statt Kleinhirn schreiben kšnnen. Null ist null.

Kommentar des Deutschlehrers: Der SchŸler wollte formulieren, dass der Sachverhalt eine kleine Null sei. Das ist noch weniger als eine gro§e Null. Wobei eine gro§e Null vielleicht noch schlimmer ist als eine kleine Null.

Nullen gibt es nicht nur in verschiedenen Farben, sondern auch in verschiedenen Grš§en.

Wer parallel sowohl in der Ausbildung von Lehrpersonen wie auch von Ingenieuren oder Naturwissenschaftlern tŠtig war, hat vielleicht die Erfahrung gemacht, dass deren RezeptionsfŠhigkeit unterschiedlich ist. Eine ironische Zwischenbemerkung, die bei Ingenieuren oder Naturwissenschaftlern zu hellem GelŠchter im Hšrsaal fŸhrt, lšst bei Lehramtskandidaten fragendes Erstaunen aus und bedarf einer zusŠtzlichen ErklŠrung. Spitz formuliert: Didaktik ist offenbar das, was man den Lehrern noch extra sagen muss. Gerne wird nun das Kompensationsprinzip bemŸht: Lehrpersonen haben dafŸr hšhere soziale Kompetenzen (Strittmatter: Ein bisschen dumm, dafŸr ein gutes Herz). Nach meiner Erfahrung sind allerdings soziale und intellektuelle FŠhigkeiten stochastisch unabhŠngig verteilt. Das Kompensationsprinzip gilt nicht.

(2) Jeder Schulleiter kennt Lehrpersonen, die von einer Schule an die nŠchste weiterempfohlen werden (ãWanderpokaleÒ) und schlie§lich in den Hafen einer pŠdagogischen Hochschule einfahren. Eine Analyse der Biografie dieser Leute ergibt folgendes: Sie sind irgendwo auf ihrem Bildungsgang – sei es als SchŸler, Student, Lehrer oder Schulleiter – nicht ganz glŸcklich geworden und suchen die ãSchuldÒ nicht bei sich selber, sondern am System Schule, das zu verŠndern sie sich nun berufen fŸhlen.

(3) Ich bin als Lehrer immer davon ausgegangen (Normalverteilung) dass die HŠlfte meiner SchŸlerinnen und SchŸler klŸger ist als ich. Diesen SchŸlerinnen und SchŸlern gegenŸber muss sich die Schule auf ihre Kernaufgabe beschrŠnken: Vermittlung von tradierten Fakten und Methoden. — Begabtenfšrderung hat ja immer etwas von Proselytenmacherei. Begabte Kinder fšrdern sich selber und sollen daran nicht gehindert werden.

6        Lern-Umgebung

Abb. 6: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) soll gesagt haben, er habe jeweils beim Erwachen so viele Ideen, dass der Tag meistens nicht ausreiche, um alle Ideen umzusetzen. Stellen wir uns nun vor, Leibniz wŠre gleich beim Erwachen in eine Lernumgebung eingebŸxt worden.

Die beste Lern-Umgebung ist die Umgebung.

7        Ausbrechen aus der Lernumgebung

Ein Ausbruch hat auch einen ethischen oder, von der Umwelt gesehen, kriminellen Aspekt.

Wir alle kennen die Pythagoras-Ikone (Abb. 7). Sakrosankt ist dabei der rechte Winkel.

Abb. 7: rot = blau

Max und Moritz, diese beiden, fŸgen zunŠchst ein zweites Hypotenusen-Quadrat hinzu, damit jeder eins hat (Abb. 8).

Abb. 8: rot = 2 × blau

Und nun wackeln sie am rechten Winkel (Abb. 9). Die eine Hypotenuse wird kŸrzer, die andere lŠnger. Gilt das Kompensationsprinzip, und wenn ja, in welchem Sinne?

Abb. 9: Pythagoras wackelt

TatsŠchlich gilt immer noch, dass die beiden roten Quadrate zusammen doppelte FlŠche haben wie die beiden blauen. Der Beweis geht sehr einfach mit dem Kosinussatz. Wir verwenden dazu die Bezeichnungen der Abbildung 10.

Abb. 10: Bezeichnungen

Wegen  ist:

 

                                                                                                           (3)

 

Aus dem Kosinussatz erhalten wir einerseits

 

                                                                                               (4)

 

und andererseits:

 

                                                         (5)

 

Addition von (4) und (5) ergibt die Behauptung. Es ist rot = 2 × blau.

Ebenso kann gezeigt werden, dass die beiden gelben Dreiecke denselben FlŠcheninhalt haben. Es ist:

 

                                                                                                 (6)

 

8        Max und Moritz-Theorem

GerŸgt Ÿber den unschšnen Faktor 2 in rot = 2 × blau halbieren Max und Moritz die blauen Quadrate und vierteln die roten (Abb. 11).

Abb. 11: Halbieren und vierteln

Nun ist rot = blau, das Max und Moritz-Theorem (Abb. 12).

Abb. 12: rot = blau

Die Figur lŠsst sich in ein Parkett einpassen (Abb. 13). Die gelben und grŸnen Dreiecke haben alle den gleichen FlŠcheninhalt.

Abb. 13: Parkett

Literatur

Busch, Wilhelm (1865): Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen. MŸnchen: Verlag von Braun und Schneider.

Grimm, Jakob und Wilhelm (1812): Kinder- und HausmŠrchen, Band I.

Mitchelmore, M. und White, P. (1998): Development of Angle Concepts: A Framework for Research. In: Mathematics Education Research Journal 10.3, S. 4–27.

Wittgenstein, Ludwig (1922): Tractatus logico-philosophicus. London: Kegan Paul, Trench, Trubner.

 

Websites

[1] Mathematikum Gie§en (abgerufen 29. 10. 2015)

http://www.mathematikum.de

 

Version 30. Januar 2016